Manuel´s Geschichte Teil 2
Der Weg ins neue Leben
Als
ich den ersten Teil von Manuels Geschichte schrieb wusste ich noch nicht,
dass das Leben noch eine gewaltige Überraschung für uns bereithält.
Es war im November 1999, als mich Manuels Klassenlehrerin um ein Gespräch
bat. Ich kam also in ihr Klassenzimmer und verstand plötzlich gar
nichts mehr. Auf ganz schonende Art und Weise versuchte sie mir zu erklären,
dass Manuel mit Hilfe von gestützter Kommunikation lesen und
schreiben kann. Und das nicht erst seit gestern, sondern seit langer
Zeit. Da wahrscheinlich meine Gesichtsfarbe immer blasser wurde erklärte
sie mir erst einmal in aller Ruhe, wie sie es herausgefunden hatte und
was gestützte Kommunikation (FC=Facilitated Communication) eigentlich
ist.
In
Manuels Schule ist FC bekannt und wird auch im Unterricht angewandt. Sie
erzählte weiter, dass sie in einer Unterrichtsstunde plötzlich
stutzig wurde, als Manuel eine "nebenbei bemerkte" Aufforderung tatsächlich
ausführte.
Danach
"testete" sie Manuel und kam ganz schnell zu dem Ergebnis, dass Manuel
zu den Kindern gehört, die sich lesen und schreiben selbst beigebracht
haben, aber dennoch kein einziges Wort sprechen.
Meine
Gedanken fuhren plötzlich nur noch Achterbahn. Wie konnte es nur sein,
dass mein bis dahin völlig geistig behindertes Kind lesen und schreiben
können sollte? Ich glaube, ich war in diesen Minuten dem Ohnmachtsanfall
näher als jemals zuvor in meinem Leben. Nachdem die Lehrerin bemerkte,
dass wohl doch wieder etwas Farbe in mein Gesicht kam, holte sie Manuel
zu diesem Gespräch dazu. Ich wusste aber plötzlich nicht mehr
so richtig, wie ich mit Manuel umgehen sollte. Sie erklärte Manuel,
dass sie ihn jetzt vor mir "geoutet" hat und bat ihn, seine Gedanken zu
schreiben. Sein erster Satz an mich war:
"Jaja
habe verdammt viel zu sagen, dass ich fit bin im Kopf".
Mit diesem Satz fing
unser neues Leben an.
Unsere ersten Stützversuche zuhause waren leider
nicht von Erfolg gekrönt. Aber aus diesem anfänglichen Buchstabensalat
wurde doch tatsächlich irgendwann richtige Kommunikation.
So
nach und nach sprach sich in der Verwandtschaft und im Freundeskreis diese
Geschichte herum. Die meisten Menschen waren zwar tief beeindruckt, konnten
sich aber noch kein genaueres Bild davon machen, was mich natürlich
aber auch nicht wunderte.
Meine
Gespräche mit Manuel wurden immer intensiver. Irgendwann im Laufe
dieser Zeit wurde mir immer bewusster, dass zu Manuels Grunderkrankung
auch autistische Züge gehören. Jetzt verstand ich auch, warum
er z.B. niemals mit einem Menschen Blickkontakt halten konnte. Manuel erstaunte
uns immer wieder mit seinem Wissen und seiner Wortwahl. Er selbst schrieb hierzu,
dass er ja bereits seit seinem 5. Lebensjahr lesen und schreiben kann.
Nun wussten wir also, daß wir ein intelligentes Kind haben, daß
aber weder sprechen kann, noch irgendwie in der Lage ist seinen Alltag zu
bewältigen. Mein größtes Problem bestand jetzt darin, daß ich nicht mehr
wußte, wie ihm ihm gerecht werden soll. Mir war klar, daß er nicht nur
ein Recht auf seine körperliche Entwicklung hatte, sondern auch auf seine
geistige. Die Situation zuhause und in der Schule wurde mit Manuel immer
schwieriger. Er wurde immer unzufriedener (was sich meist in Aggressionen
gegen mich äußerte), weil er nicht nach seinen Vorstellungen lernen durfte. Ich
weiß nicht mehr wie viel schlaflose Nächte ich brauchte um einen einigermaßen
klaren Weg für mich erkennen zu können. Manuel wollte unbedingt Latein und
Deutsch lernen ("oder am besten gleich auf das Gymnasium wechseln").
Ein Gespräch mit seiner Lehrerin war für mich der erste Schritt. Wir versuchten
herauszufinden, welchen Wissensstand Manuel hatte. Wir waren immer wieder
darüber erstaunt welch großes Wissen Manuel aufweisen konnte. Auf die Frage
woher er denn dieses Wissen hauptsächlich auch in Latein und Deutsch hat kam meistens die Antwort "DIE LATEINISCHE
UND DEUTSCHE SPRACHE IST KLAR STRUKTURIERT; DURCH DENKEN KANN MAN DIESE STRUKTUR
ERKENNEN").
Uns war allen klar, daß nur eine Schulkombination die
Lösung für Manuel sein kann. Es musste einfach möglich sein, daß er zwei
Schulen gleichzeitig besucht, nämlich eine Behinderteneinrichtung und eine
Regelschule. Bei all seiner Intelligenz durften wir jedoch seine stark verminderten
Handlungs- und Wahrnehmungsfähigkeit nicht vergessen.
Seine Lehrerin machte sich also
auf den Weg um eine Realschule ausfindig zu machen die bereit war, Manuel
stundenweise in den Deutschunterricht aufzunehmen. Sie wurde fündig in der
Wittelsbacher Realschule in Aichach. Eine Lehrerin
dieser Schule erklärte sich dazu bereit ihn für eine Stunde in der Woche in
den Deutschunterricht zu integrieren. Da Manuel aber nicht alleine in die
Realschule gehen konnte, brauchten wir nun einen passenden Schulbegleiter für
ihn, der auch die gestützte Kommunikation beherrscht. Zu unserem großen
Glück übernahm diese Rolle Manuels Klassenlehrerin. So langsam aber sicher
bekam dieser Realschulbesuch ein Bild. Nachdem dann auch die
Schuldirektoren ihr Einverständnis für dieses Projekt gaben, konnte es endlich
losgehen. Um so näher dieser erste Realschultag rückte, umso nervöser und
unruhiger wurde ich. Ich konnte überhaupt nicht einschätzen, ob Manuel dieser
Situation gewachsen ist. Das einzige was ich allerdings ganz sicher wusste war, daß für
Manuel ein lang herbeigesehnter Traum in
Erfüllung geht. Die Angst meinerseits, daß die Kinder in dieser Klasse ihn nicht
akzeptieren war völlig unbegründet. An seinem ersten Schultag wurde er dort
so herzlich aufgenommen, daß Manuels Zeitrechnung seither nur noch von einem
Deutschunterricht zum nächsten geht.
Seit Manuel "seine" Realschule
besuchen darf und endlich lernen darf, haben sich auch seine kognitiven
Fähigkeiten und Möglichkeiten stark verbessert. Unser Ziel es es, seine
Schulstunden nach seinen Fähigkeiten aufzustocken um ihm somit ein Leben zu
ermöglichen, daß seinen Fähigkeiten und Ansprüchen gerecht wird.
Unser Alltagsleben
ist durch Manuels "geistige Auslastung" deutlich
verbessert worden. Ich persönlich musste natürlich auch
lernen (und lerne immer noch!), daß ich aufhöre ihn zu "bemuttern".
Es spricht nichts dagegen, daß er z.B. seine Schuhe selbst aufräumt. Ich
ertappe mich auch heute immer wieder dabei, wie ich für ihn Entscheidungen
treffe ohne ihn vorher nach seiner eigenen Entscheidung und Meinung zu fragen. Aber auch Mütter lernen ja
bekanntlich nie aus.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch nicht
verschweigen, daß das Alltags- und Familienleben mit einem behinderten Kind
nicht immer einfach und ausgeglichen ist. Viele Steine müssen aus dem Weg
geräumt werden und viele Entscheidungen müssen getroffen werden. Viele
Entscheidungen von anderen Menschen müssen hingenommen werden, obwohl man den
Sinn dieser Entscheidung nicht immer klar erkennen, respektive verstehen kann.
Viele Menschen mit Entscheidungsgewalt müssen von der Besonderheit eines jeden
Menschenlebens überzeugt werden, obwohl ich ihnen jegliche Kompetenz ihres
beruflichen Wissens absprechen möchte.
Ich hoffe sehr mit unserer
Geschichte ein kleinen Beitrag dazu geleistet zu haben, dass das Mitleid für
behinderte Menschen endlich aufhört. Anstatt Mitleid sollte Stolz und
Anerkennung für die Leistungen dieser Menschen im Vordergrund stehen.
Diese Menschen mit Handicap geben mit Sicherheit jeden Tag das Beste von dem, was
ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten zulassen. Leider kann man dieses
oftmals von uns "normalen" Menschen nicht behaupten.
Sabine Kondert